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Lebendiges Deutsch ohne Nebensätze?

Wer hat ihn nicht auswendig gelernt, den „Erlkönig“ von Goethe? Immer noch ist es eins der Lieblingsgedichte vieler Deutscher, Kinder wie Erwachsener, mit seiner schaurig-gruseligen Atmosphäre.

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
er hat den Knaben wohl in dem Arm,
er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

„Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?“
„Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron‘ und Schweif?“
„Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
manch bunte Blumen sind an dem Strand,
meine Mutter hat manch gülden Gewand.“

„Mein Vater, mein Vater, und hörst du nicht,
was Erlenkönig mir leise verspricht?“
„Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
in dürren Blättern säuselt der Wind.“

„Willst, feiner Knabe, du mit mir geh‘n?
Meine Töchter sollen dich warten schön:
meine Töchter führen den nächtlichen Reih‘n
und wiegen und tanzen und singen dich ein.“

„Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort?“
„Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
es scheinen die alten Weiden so grau.“

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt,
und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“
„Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan!“

Dem Vater graust‘s; er reitet geschwind,
er hält in den Armen das ächzende Kind,
erreicht den Hof mit Müh und Not;
in seinen Armen das Kind war tot.

Ohne Nebensätze geht’s nicht nur in der Lyrik

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Genau zwei Nebensätze hat das Gedicht – und ist dennoch lebendig, emotional, packend, alles andere als langweilig. Lebendiges Deutsch kann (fast) ohne Nebensätze auskommen. Nicht nur in der Lyrik.

Und noch was: Schreiben Sie mal das Gedicht um, packen Sie lauter Nebensätze hinein – und versuchen Sie es dann auswendig zu lernen! Aussehen könnte es dann so:

JordanStimpson

Erlkönig mit Nebensätzen

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind, der den Knaben wohl in dem Arm sicher und warm hält. „Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?“ „Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht, der Kron‘ und Schweif trägt?“ „Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir, damit ich gar schöne Spiele ich mit dir spiele, wo manch bunte Blumen an dem Strand sind und meine Mutter manch gülden Gewand hat.“ „Mein Vater, mein Vater, und hörst du nicht, was Erlenkönig mir leise verspricht?“ „Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind, wenn in dürren Blättern der Wind säuselt.“

„Willst, feiner Knabe, du mit mir geh’n, damit meine Töchter, die den nächtlichen Reih‘n führen, dich schön warten und wiegen und tanzen und singen sollen. „Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort, wo Erlkönigs Töchter am düstern Ort sind?“ „Mein Sohn, mein Sohn, ich seh genau, dass die alten Weiden so grau scheinen.“

„Ich liebe dich, weil mich deine schöne Gestalt reizt, und wenn du nicht willig bist, dann brauch ich Gewalt.“ „Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an, sodass Erlkönig mir ein Leids getan hat!“ Dem Vater graust’s, sodass er geschwind reitet, während er in den Armen das ächzende Kind hält und den Hof mit Müh und Not erreicht, als das Kind in seinen Armen tot war.

Wer Nebensächliches schreibt, den liest niemand

Gruselig, oder? Die Sprache verliert an Kraft, an Ausdruck. Natürlich fallen auch die Reime weg, aber selbst ungereimte Texte werden schwach, je mehr Nebensätze sie enthalten. Den Nebensätze tragen Nebeninformationen – und wer sich mit so viel Nebensächlichem abgibt, warum sollte man diesem dann zuhören/ihn lesen?

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