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Wie die Werbung uns zum Wegwerfen erzog

Oma bügelte sie noch – Opas Taschentücher. Weiß mit bunt liniertem Rand waren sie und bestens geeignet, um Puppenpopos damit zu wickeln oder mittels vier Knoten einen Baby-Sonnenhut daraus zu basteln. Opa hatte zum eigentlich vorgesehenen Zweck immer eins in der Tasche seiner unförmigen Kordhose und pflegte sich ab und zu trompetend zu schnäuzen, wenn der Blütenstaub ihn in der Nase juckte. Das Geräusch fanden wir Kinder urkomisch – und es gehörte zu Opa wie die derben Gärtnersgaloschen und die erdverschmierten Hände.

Der Tod des Stofftaschentuchs: Tempo!

Opa hatte einfach den Trend verschlafen: Stofftaschentücher waren längst out. Und das schon seit den 1950er Jahren, denn zu dieser Zeit kam Tempo auf den Markt. „Gib mir mal ein Tempo!“, ist heute noch immer geflügeltes Wort – trotz vieler Konkurrenz-Marken: Parade-Beispiel für eine erfolgreiche Markenpositionierung. (Im englischsprachigen Bereich ist das Pendant das Kleenex, wie ich dank eines schlecht übersetzten Romans herausfand.)

Heute ist Tempo laut Werbung „weich und reißfest“, aber zu Beginn setzte die Marke auf ganz andere Werte: Tempo setzte in einem für heutige Verhältnisse ewig langen Schwarz-Weiß-Werbespot auf Hygiene-Aufklärung.

Hygiene als Verkaufsargument für das Wegwerfprodukt

Stilvoll – aber unhygienisch?

Im Stofftaschentuch trage man seine Bakterien herum, die sich in der warmen Hosentasche prima vermehren und beim nächsten Händedruck leichtfüßig auf den nächsten Wirt überwechseln könnten – eklig! Wie schön, dass es nun Tempo gibt: Einmal schnäuzen, wegwerfen – ade Bakterien!

Wegwerfen, das war in den 1950er Jahren etwas Revolutionäres! Niemand warf einfach etwas weg, niemand kaufte etwas, das nach einmaligem Gebrauch bereits in den Müll wandern sollte – per Bestimmung! Die Menschen mussten zum Wegwerfen erst erzogen werden – z. B. durch Hygiene-Aufklärung.

Kaufen. Wegwerfen. Noch mal kaufen.

Andere Branchen erkannten, welch geniale Idee hinter der Wegwerf-Philosophie steckte: Was man nach kurzem Gebrauch entsorgte, musste man ja erneut kaufen – wie genial! Und so entstanden immer mehr Wegwerf-Produkte, auch in Branchen, in denen Wegwerfen rein gar nichts mit Hygiene zu tun hatte. Musste in den 1950er Jahren eine Anschaffung vor allem lange halten, gelten heute andere Kriterien, denn ist es kaputt/unmodern/un-irgendwas, wird es eben entsorgt und ersetzt. Qualität ist nicht mehr gleich Haltbarkeit.

Wegwerfen ist heute so normal, dass wir uns die Alternative oft überhaupt nicht mehr vorstellen können. Dabei müssen wir nur Oma und Opa fragen, die wissen noch, wie das geht. Oma erzählt z. B. von den mehrlagig selbstgehäkelten Binden, die mittels eines Bindengürtels befestigt wurden. Ja, sogar Menstruationsprodukte gab es früher als Mehrwegsystem!

Haltbarkeit von früher – Komfort von heute

Aus einem alten T-Shirt oder der eingelaufenen Lieblingsbluse lassen sich tolle Stofftaschentücher schneide(r)n.

Natürlich hat Oma keine guten Erfahrungen damit gemacht: Die Binden rutschten, ließen manchmal etwas durch, mussten gewaschen (per Hand!) und getrocknet werden – und das, ohne die Männer der Familie mit dem Anblick zu belästigen.

Dennoch: Es gibt sie heute wieder, die Alternative zu Wegwerf-Tampons, -Binden und Slipeinlagen – sogar von mehreren Firmen. Die sind entsprechend teurer als ihre Wegwerf-Gegenstücke, auf lange Sicht jedoch günstiger. Und natürlich viel sicherer und komfortabler als Omas Häkelbinden – auch dank Waschmaschine.

Vor allem sind sie besser für die Umwelt. Denn der Öko- und Bio-Welle auf den Fersen sind seit einiger Zeit das Lange-Verwenden, Wieder-Verwenden oder. Das Wegwerf-Argument von Tempo würde heute Social-Media-Shitstorms auslösen. Und so schneidern sich die ersten aus dem besten Stück alter Baumwoll-T-Shirts bereits wieder ihr Stofftaschentuch. Oder kaufen es als Luxus-Artikel.

Gut erzogen durch Werbung?

Bei Heuschnupfen allemal eine gute Alternative – mit dem steckt man ja niemanden an. Auch auf Beerdigungen ist die Träne im Stofftaschentuch doch viel stilvoller. Und seien wir mal ehrlich: Das ursprüngliche Verkaufsargument für das Tempo war vielleicht die Hygiene. Aber wer von uns wirft denn ein angeschnäuztes Taschentuch tatsächlich sofort in die Tonne?

Meist stecken wir es doch für das nächste Schnäuzbedürfnis in die Hosentasche. Wie Opa damals sein Stofftaschentuch.

Werbung ist eben doch kein guter Erzieher. Will sie auch nicht sein: Im besten Fall ist sie ein guter Verkäufer.

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